Taktikanalyse zum 2. Spieltag: Ungarn - Deutschland

Was machte die deutsche Mannschaft anders als gegen Schottland?

Deutschland passt sich taktisch an und gewinnt auch gegen Ungarn

Deutschland hat auch sein zweites Gruppenspiel der Europameisterschaft gewonnen und sich dabei eindrucksvoll gegen Ungarn durchgesetzt. Der Spielverlauf war im Vergleich zum ersten Spiel jedoch deutlich anders, was vor allem an der Spielweise der deutschen Mannschaft und einem überragenden Manuel Neuer lag.

Nominell unverändert, aber taktisch angepasst

Die Ungarn wechselten im Vergleich zu ihrem ersten Gruppenspiel gegen die Schweiz einige vermeintliche Schwachpunkte aus, blieben in der Grundformation aber ebenfalls unverändert. Sie spielten im gewohnten 5-2-3-System, wobei die Offensivwaffen Roland Sallai und Dominik Szoboszlai auf den Außenpositionen des Dreier-Angriffs agierten.

Deutschland ging hingegen im Vergleich zum Eröffnungsspiel gegen Schottland nominell unverändert in das zweite Gruppenspiel, zeigte jedoch einige taktische Anpassungen. Die deutsche Mannschaft agierte defensiv kompakt und nutzte schnelle Umschaltmomente, um die ungarische Defensive zu überwinden. Auf die taktischen Anpassungen der Offensive gehen wir nun genauer ein.

Toni Kroos' Abkippen

Toni Kroos und das durch Julian Nagelsmann in aller Munde liegende diametrale Abkippen fand auch gegen die Ungarn zahlreiche Male statt. Die ungarische Nationalmannschaft versuchte unmittelbar Druck gegen diese Positionierung aufzubauen. Der Mittelfeldregisseur Kroos zeigte daraufhin häufig Positionierungen zwischen den Innenverteidigern und kippte dementsprechend zentral ab. Auch aus dem Zentrum heraus ließ sich das Spiel aufbauen. Trotzdem ist das seitliche Abkippen zwischen den Innen- und Außenverteidigern für den Spielaufbau von Toni Kroos vorteilhafter. Der Mittelfeldspieler von Real Madrid hat so die Möglichkeit, sowohl die Halbräume als auch eine Seite flach zu bespielen, kann aber dennoch die ballferne Seite per Flugball anspielen. Im Endeffekt entschied man sich im Spielaufbau situativ für eine Positionierung.

Das Übergangsspiel

Aus dieser Positionierung im 3-3-3-1/3-1-5-1 (die Außenverteidiger auf 6er-Höhe mit Andrich oder mit Gündogan auf 10 und den 8ern auf den Halbspuren) heraus, war es auffällig, dass Joshua Kimmich und Maximilian Mittelstädt verschiedene Höhen einnahmen. Mittelstädt schiebt entscheidend höher als Kimmich und bindet somit auch Ungarns rechten Außenverteidiger Bolla.

Die Schotten reagierten auf diese Positionierung am vorherigen Spieltag durch einen tiefen Block im 5-3-2, ohne großen Druck auf den spielaufbauenden Kroos auszuüben. Darauf wäre die deutsche Nationalmannschaft bestens vorbereitet gewesen. Mit den technisch-begabten Youngsters Wirtz und Musiala, dem erfahrenen Gündogan und den Außenverteidigern Mittelstädt und Kimmich, die begnadete Flankengeber sind, wäre es nur eine Frage der Zeit gewesen, bis ein unbedrängter Toni Kroos mit einem Tiefenpass, für den der Packing-Wert buchstäblich erfunden wurde, den gegnerischen Block aus der Ruhe heraus durchspielt.

Der entscheidende Unterschied des ungarischen Defensivspiels im Vergleich zum schottischen war das flache Mittelfeldpressing der Ungarn. Immer wieder übten der Stürmer Varga und der ballnahe Außenspieler des Dreier-Angriffs gemeinsam in vorderster ungarischer Ebene Druck auf den Ballführenden aus, während sich der jeweils andere an Robert Andrich, den einzigen positionsgetreuen Sechser des Spielaufbaus, orientierte. Der ballferne Außenspieler fiel daraufhin oft in die Mittelfeldkette, sodass diese durchschieben konnte und den Raum verengte. Die ungarischen Außenverteidiger verteidigten in Mannorientierung bzw. auf Sprung gegen die hochstehenden deutschen Außenverteidiger. Im Zentrum entstand so ein raumorientiertes 4 gegen 6. Die Ungarn waren im gefährlichen Bereich vor dem Sechzehner in Überzahl. So konnten die ballnahen ungarischen Abwehrspieler gegen die zwischen den Linien stehenden deutschen Angreifer Musiala, Wirtz und z.T. auch Gündogan vorverteidigen. Auch Edeltechniker bekommen gegen rustikale Verteidiger mit gutem Timing Probleme.

Vom Zentrum auf die Außenverteidiger zurückzuspielen, brachte die Deutschen nicht nach vorne. Kimmich und Mittelstädt sind keine Spielertypen für vertikale 1-gegen-1-Situationen. So war es für die deutsche Nationalmannschaft über lange Strecken schwierig, gefährlich vorzustoßen.

Nagelsmann war darauf aber vermutlich vorbereitet, zumindest hatte er eine greifende Lösung für das Problem parat. Wirtz und Musiala konnten durch das aggressive Vorverteidigen der Ungarn zwar nicht optimal aufdrehen, nutzten aber eben dieses Vorverteidigen, um die äußeren Innenverteidiger der Dreier-Abwehrkette aus der Ordnung zu binden. Immer wieder dribbelten sie vom gegnerischen Tor weg, sodass die Ungarn ihre Kette verließen und Räume entstanden, da sich die ungarischen Außenverteidiger primär an den breitstehenden deutschen Außenverteidigern orientierten und der zentrale Innenverteidiger sich an den zentral-positionierten deutschen Spielern ausrichtete.

Was fängt man jetzt aber mit diesen Räumen an?

Um diese freigewordenen Räume zu bespielen, sind gutes Timing und klare Abläufe unverzichtbar. Die Halbraumspezialisten Musiala und Wirtz dribbelten so weit in Richtung eigenes Tor, bis ein Spieler aus der Mittelfeldkette der Ungarn für das Verteidigen des deutschen Ballführenden zuständig war. Dann befand sich der bis dahin gebundene Innenverteidiger in seiner maximalen Höhe. Wirtz suchte daraufhin Kroos, Musiala häufiger Andrich für einen Vorbereitungspass für den dann folgenden Pass in die Schnittstelle, in die dann zumeist Havertz und Gündogan starteten. So stieß die deutsche Mannschaft häufig in das gegnerische Drittel vor und kam zu gefährlichen Abschlusssituationen.

Das könnte Deutschland um die Ohren fliegen

Die Gefahr des deutschen Angriffsspiels liegt im Spielaufbau selbst, genau genommen in der Restverteidigung. Bricht die gegnerische Mannschaft im Konterspiel die deutsche Mittelfeldkette, sind die ersten sechs Spieler, darunter die hohen Außenverteidiger, vor dem Ball überspielt und die Außenbahnen offen. Auch der Anschluss dieser Spieler verspricht nicht viel. Kimmich und Mittelstädt sind im Sprinttempo eher durchschnittlich und bspw. gegen das Tempo eines Kylian Mbappé, Nico Williams oder Rafael Leão machtlos. Musiala und Wirtz sind aus ihrem Instinkt heraus, auch wenn sie außer Frage fleißige Läufer sind, keine Balljäger. Zuletzt bleibt ein Ilkay Gündogan, der mit 33 Jahren diese Rolle einfach nicht mehr ausfüllen kann.

Einer der vier übrigen Spieler hinter dem Ball ist Toni Kroos, den wir bedeutend lieber mit anstatt gegen den Ball spielen sehen. Jonathan Tah und Antonio Rüdiger sind für Innenverteidiger zwar recht schnell, sind aber in der Verteidigung der Außenbahnen weniger sicher als bei der Verteidigung des Zentrums und schlichtweg nicht dafür vorgesehen, das Zentrum aufzugeben. Robert Andrich ist, wie bereits erwähnt, häufig in zentraler Position vor der Kette und findet so insbesondere gegen schnelle Angreifer nicht schnell genug Anschluss an die eigene Defensive.

Diese Schwäche wurde nach gelingendem Vorverteidigen der Ungarn offensichtlich. Der Hauptgrund für das gegentorlose Ende des Spiels aus deutscher Sicht war ein überragender Manuel Neuer. Die Torwartfrage sollte nach diesem Spiel endgültig geklärt sein. Wer noch Zweifel hat, kann unseren Artikel „Die Mannschaft“ noch einmal lesen und sich dann entscheiden. Manuel Neuer zeigte eine außergewöhnliche Leistung und bewahrte die deutsche Mannschaft in mehreren kritischen Situationen vor einem Gegentor. Im Gegensatz zum Spiel gegen die Schotten wurde der Gegner diesmal einige Male gefährlich. Nach nicht mal einer Minute war Manuel Neuer mit einer blitzschnellen Reaktion nach einer schwachen Rückgabe von Joshua Kimmich zur Stelle. Weitere Male parierte er überragend und gab der Mannschaft somit die gewohnte Sicherheit, die er ausstrahlt.

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